Petőcz András
Fremde
Aus dem Ungarischen von Miklos Pataky
Lügen hat mir meine Mutter beigebracht.
Wir packen.
In die Kiste und den Koffer kommen die Kleider, das Bettzeug und die Decken. In eine der Taschen stopfen wir Pfannen, Töpfe und Besteck.
Wir ziehen um.
Länger als ein halbes Jahr bleiben wir nie am gleichen Ort.
So sorgt meine Mutter für meine Sicherheit.
Auch beim Packen redet sie:
„Es reicht nicht mit dem Kopf zu lügen”, sagt sie. „Man muss aus dem Bauch heraus lügen können. Blitzschnell. Felsenfest. Nur so bleibst du am Leben.”
Ich habe einen kleinen Rucksack, in dem nehme ich meine Puppe mit. Und meinen Hund Bongo. Sie ziehen mit mir um. Sie gehören zu mir, ich passe auf sie auf.
Meine Mutter karrt die Kiste, den Koffer, die Taschen und Tüten mit einem Leiterwagen zum Bahnhof. Auf den Straßen am Bahnhof sind sehr viele Leute. Frauen, Männer und Kinder.
Auch Hunde.
Die Hunde sind gefährlich. Manche sind schon sehr hungrig.
Einige Leute versuchen sich ohne Gepäck zum Bahnhof durchzudrängeln, andere sind mit Koffern und Taschen beladen. Es gibt welche, die haben genau so einen kleinen Leiterwagen wie wir.
Meine Mutter sagt, wir müssen durch die Menge, damit wir zum Bahnhof kommen. Ich soll mich am Leiterwagen festklammern, damit die Leute mich nicht wegstoßen, ruft sie.
Vor dem Losgehen hat meine Mutter gesagt:
„Wenn wir einander verlieren, sehen wir uns vielleicht nie wieder. Begreifst du? Wir müssen weg von hier, also gehen wir, egal um welchen Preis. Dort, wohin ich dich jetzt bringe, da bist du eine Weile in Sicherheit. Vielleicht sogar für Jahre, wenn wir Glück haben. Aber zuerst müssen wir zum Bahnhof. Es wird viel los sein. Du darfst mich nie aus den Augen verlieren.”
Ich hasse die Menge. Die Leute drängeln, wir kommen kaum weiter.
Alle sind nervös.
Auch meine Mutter. Sie versucht für sich und den Leiterwagen einen Weg zu finden und schreit jeden an, der nicht sofort ausweicht.
Aus dem Lautsprecher am Bahnhof kommt Musik. Man hört sie schon von Weitem.
Plötzlich verstummt die Musik, etwas wird in der offiziellen Staatssprache durchgesagt.
Die Staatssprache verstehe ich immer noch nicht richtig, nur die hiesige Sprache spreche ich fließend. Seit einer Weile ist mir meine Mutter deswegen sehr böse. Sie ist nervös. Ich soll jeden Tag die Staatssprache lernen, sagt sie. Und sie sagt auch, ich bin noch ein Kind, ich lerne Sprachen leicht, ich kann sogar noch lernen, die Staatssprache fehlerlos zu sprechen.
Das sagt sie.
Jetzt bleibt meine Mutter stehen, sie horcht, was über den Lautsprecher durchgesagt wird. Dann zerrt sie noch heftiger am Leiterwagen, brüllt die alte Frau vor ihr an, sie soll aus dem Weg.
Während sie drängelt und an dem Wagen zerrt, redet sie ständig weiter.
Dauernd ermahnt sie mich:
„Wenn du gefragt wirst, antwortest du, aber du sagst nie die Wahrheit! Hast du verstanden? Wenn dich ein Soldat etwas fragt, stellst du dich blöd oder du erfindest etwas, was nicht stimmt! Verstanden?”
Ich frage:
„Warum?”
„Nur so. Egal. Du sagst nicht, dass dein Vater tot ist. Das ist das Wichtigste. Du sagst, er lebt. Du sagst nicht, wer wir sind, du sagst, wir sind Touristen, Reisende. Wir gehen wandern. Sag, was du willst. Rede wirres Zeug. Sag, wir sind Bauern, auch deine Mutter, und dein Vater baut Gemüse an. Wir leben ja davon, wir bringen Gemüse auf den Markt, nicht wahr? Sag, wir sind Flüchtlinge, von der anderen Seite der Grenze, wir sind von weit her gekommen. Aber sag keinem die Wahrheit, hörst du? Nie!”
Es ist nicht leicht, in den Bahnhof zu kommen. Meine Mutter hat gesagt, im Bahnhof wird es schon gut sein. Im Zug werden nicht mehr so viele Leute sein.
Meine Mutter hat auch gesagt, kann sein, dass wir einen ganzen Tag im Zug bleiben müssen.
Wir fahren weit weg.
Meine Mutter weiß, wohin.
Irgendwo wartet ein Zimmer auf uns, eine Wohnung, irgend etwas, was meine Mutter schon für uns organisiert hat und reserviert.
Oder sie hat wenigstens erreicht, dass uns irgend jemand aufnimmt.
Sie hat das geschafft, wie immer, am Telefon.
Ich weiß das, sie macht das seit Jahren so. Sie ist immer sehr geschickt.
Endlich sind wir am Bahnhof, am Eingang stehen Wachtposten mit Waffen. Vor ihnen ist eine Absperrung aus Gittern.
Die Wachtposten schauen sich die Papiere der Leute an, fast jeden schicken sie weg. Nur wenige dürfen in den Bahnhof.
Meine Mutter zieht den Leiterwagen ganz bis an das Eisengitter, dann ruft sie einen der Wachtposten:
„Pavel! Paolo! Wir sind da!”
Der Soldat bemerkt uns, geht zu einem anderen Soldaten, flüstert ihm etwas zu. Der andere Soldat hört ihm zu, dann sieht es aus, als ob er etwas fragt.
Sie lachen laut.
Der Soldat, den meine Mutter Pavel oder Paolo gerufen hat, geht zur Absperrung, schreit die Leute dort an und macht die Absperrung auf.
Meine Mutter ist aufgeregt, sagt etwas zu mir, ich verstehe nicht was, das Stimmengewirr ist groß, alle um uns herum reden durcheinander.
Meine Mutter zieht den Wagen hinter das Eisengitter, ich folge ihr.
Paolo geht zu meiner Mutter, flüstert ihr ins Ohr, dann schlägt er ihr auf den Hintern.
Er lacht.
Wir sind im Bahnhof. Die Wachtposten kümmern sich nicht mehr um uns.